Sollte man den Opfern des Nationalsozialismus gedenken? Laut der Historikerin Dr. Ulrike Schrader stellt sich diese Frage nicht: „Die Frage nach dem Erinnern ist eine Frage des Wie, nicht des Ob“, sagte sie auf dem Bandwirkerplatz bei einer Gedenkveranstaltung für die Opfer des NS-Zeit.
Ronsdorfer Kirchengemeinden, Parteien und Vereine hatten eingeladen – einen Tag vor dem bundesweiten Gedenktag für die Opfer der NS-Zeit am 27. Januar. Der Ronsdorfer Posaunenchor trug Friedenslieder, wie „Hevenu shalom alejchem“ (hebr. für: Wir wollen Frieden für alle) vor.
Am 27. Januar 1945 wurden das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau sowie die zwei anderen Konzentrationslager Ausschwitz durch die Rote Armee befreit.
Holocaust-Vergleiche zeugen von „mangelnder Empathie“
Bezirksbürgermeister Harald Scheuermann-Giskes begrüßte Dr. Ulrike Schrader. Sie leitet die Wuppertaler Begegnungsstätte „Alte Synagoge“, das einzige jüdische Museum und der einzige Lernort zur Geschichte des Nationalsozialismus im Bergischen Land.
Dr. Schrader sagte, dass die Erinnerung in jedem Jahr eine Herausforderung sei. In diesem und im vorherigen Jahr sei diese Herausforderung aber besonders groß: „Das hat mit dem 7. Oktober (2023) zu tun, dem Massaker der judenhassenden Terroristen im Süden Israels.“
Sie berichtete von der steigenden Anzahl an judenfeindlichen Angriffen in Deutschland seit dem 7. Oktober 2023.
In Diskussionen um den Nahostkonflikt treffe sie häufig auf mangelnde Empathie und meinte, dass es falsch sei, heutiges Leid, Hungersnöte und Kriege mit dem Nationalsozialismus, dem Holocaust oder den Warschauer Ghettos zu vergleichen. „Wer das tut findet offensichtlich keine Worte, um den eigenen persönlichen Gefühlen Ausdruck zu geben und behilft sich mit den krassesten Vergleichen, die allgemein bekannt sind.“
Gedenken als Begegnung mit den Gefühlen und dem Verlust
Dr. Schrader erinnerte an die Anfänge der Judenverfolgung in Wuppertal: Am 26. Oktober 1941 wurden 200 jüdische Menschen vom Steinbecker Bahnhof in die polnische Stadt Łódź und das dortige NS-Sammellager deportiert. Szenen, die sich im ganzen von der Wehrmacht besetzten Europa abspielten. Dr. Schrader sprach von einem „[…] präzedenzlosen Verbrechen, einem Genozid ohne Muster und Vorbild. So etwas ist seitdem nie wieder geschehen.“
Die Charta der Hamas von 1987 und die Ereignisse am 7. Oktober 2023 hätten allerdings gezeigt, dass es weiterhin „[…] Menschen gibt, die kein jüdisches Leben akzeptieren.“ Diese Gefahr sei, so Dr. Schrader, auch nach dem Zweiten Weltkrieg nie beseitigt worden.
Zum Gedenktag müsse man erinnern, was der Holocaust war und welche Gefahren heute drohen: „Dazu zu schweigen, macht uns genauso schuldig wie die Geschichte nicht zu kennen und Fakten zu verdrehen oder zu ignorieren. Gedenken ist keine Wiederholung, ist kein Ritual, sondern die Begegnung unserer Gefühle mit dem Denken und dem Verlust.“
Zunehmende Straf- und Gewalttaten und rechte Narrative im Netz
Martin Schumacher von der Katholischen Kirchengemeinde sprach stellvertretend für die Ronsdorfer Kirchengemeinden. Er sagte, es gebe Anlass dazu, die Erinnerung an die NS-Zeit zu verstärken: „Die Zunahme rechtsextremistisch motivierter Straf- und Gewalttaten in Deutschland in 2023 um 22,4 Prozent.“ 2024 stieg diese Zahl laut dem Bundesinnenministerium erneut auf 33.963 Delikte.
Außerdem nannte er: „Das Erstarken einer Partei, in der eine rechtsextreme Gesinnung sich wieder an vielen Stellen artikulieren darf“, sowie die zunehmende Verbreitung von Verschwörungstheorien, Antisemitismus oder Fremdenhass in den sozialen Medien: „Die Grenzen des Sagbaren werden dabei immer weiter verschoben und rechte Narrative werden im Netz automatisiert verbreitet“, so Schumacher. Auch den „Machtzuwachs autoritär regierenden Personen und Parteien mitten in Europa“, erwähnte er.
Erinnerung mit persönlichen Erfahrungen vor Ort
Die Erinnerung sei dabei ein wichtiges Gegenmittel, insbesondere Besuche in einem KZ seien hilfreich. Theoretisches Wissen werde für viele erst bedeutsam, wenn sie die persönlichen Gegenstände der in KZ ermordeten Menschen oder die Folter- und Hinrichtungsstätten selbst sehen.
Auch Stolpersteine, die an die Wohnorte und Schicksale der deportierten Menschen erinnern. hätten eine ähnliche Funktion, so Schumacher weiter.
Schließlich sagte er, dass auch der Gang zur Urne bei der Bundestagswahl ein Mittel gegen die Polarisierung und Spaltung der Gesellschaft sein könne: „Wählen wir verantwortlich und nach sorgfältiger Prüfung. Geben wir uns nicht mit einfachen Antworten zufrieden, die Ausgrenzung und Abgrenzung in unserer Gesellschaft vertiefen.“
Von Moritz Körschgen